Von Blumen, Pflanzen und so manchem mehr


PETER MÜLLER, Karlsruhe

Es war einmal ein älterer Herr, der eigentlich schon von Kindesbeinen an gerne auf Blumen schaute und sich an ihrem Anblick erfreuen konnte. Als er schon ein wenig älter geworden war und einen Fotoapparat besaß, kniete er sich regelmäßig vor ganz besonders schönen Exemplaren nieder und machte davon ein Bild, das er zu besonderen Anlässen gerne auch verschenkte. Zwar interessierte er sich dafür, wie die Blümchen hießen. Aber das war ihm nicht wirklich wichtig, zumal er feststellte, dass es eine ziemliche Mühe bereitete, unbekannte Arten in seinen Büchern aufzuspüren. Also hatte er sich, ohne darunter zu leiden, damit abgefunden, die Namen mancher der Schönheiten zu kennen, die der Mehrzahl aber nicht.

Eines Tages – da war er schon längere Zeit aus dem aktiven Leben ausgeschieden – wurde ihm zugetragen, dass sich in seiner Heimat Menschen zusammen gefunden hatten, um auf gemeinsamen Exkursionen die große Vielfalt der Pflanzen in der Natur, aber auch auf Plätzen, Grünstreifen, Bürgersteigen und Straßenrändern festzuhalten. Er überlegte, ob er sich dieser Gruppe anschließen sollte, denn alleine schon die Aussicht auf regelmäßige Rundgänge schien ihm äußerst reizvoll. Allerdings zögerte er, denn er erfuhr, dass dieser Gruppe ausgewiesene PflanzenkennerInnen angehörten, die man in Fachkreisen BotanikerInnen nennt. Das schreckte ihn ab, denn was hätte ein blutiger Laie wie er in diesem erlauchten Kreise von ExpertenInnen zu suchen. Erst als ihm ernsthaft versichert wurde, dass alleine die Liebe zu den Pflanzen schon ausreichte, um dieser Vereinigung hochkarätiger SpezialistInnen beizutreten, traute er sich und füllte sein Anmeldeformular aus.

Schnell lernte er, dass es mit dem, was er Zeit seines Lebens so sehr zu schätzen und zu lieben gelernt hatte, noch lange nicht getan war. Freundlich, aber bestimmt wies man ihn des Öfteren bei Zusammentreffen der ExpertInnen darauf hin, dass die Blümchen einzuordnen seien in das große Feld der Botanik, einem weiten Feld, wie man ihm vielsagend zuraunte. Er war dankbar für jegliche Hinweise, die man ihm gab, und saugte wissbegierig jeden einzelnen davon auf. Schließlich hatte er sich dazu entschieden, trotz seines fortgeschrittenen Alters in den Stand eines Novizen zu treten. Er war dazu bereit, alles zu überhören, was ihn davon hätte ablenken können, sein Ziel zu erreichen. Möglicherweise aus seiner Lebenserfahrung heraus hatte er sich instinktiv dafür entschieden, dieses Ziel nicht allzu zu hoch zu stecken, denn er war sich sicher, dass es in seinem Alter beinahe unmöglich war, irgendwann einmal sich verwandelt zu haben von einem offensichtlichen Dilettanten oder gar Unwissenden  in einen wahrhaftigen Botaniker. Aber – so sein Fazit, das auch eine sanfte Form des Selbstschutzes beinhaltete – warum sollte er nicht dahin kommen, sich so viele Grundkenntnisse anzueignen, dass die Koryphäen bereit waren, ihn als engagierten Freizeit-Botaniker anzuerkennen, dessen Mitwirken in ihrem erlauchten Kreis großzügig geduldet wurde.

Er ließ sich nicht entmutigen, an den botanischen Montagsexkursionen teilzunehmen, obwohl er sich anfangs von den beinahe – so schien es ihm zumindest – unzählbaren ihm völlig fremden Namen für die Pflanzen, die ganz offensichtlich umherstanden, überwältigt fühlte. Diese und jene davon hatte er da oder dort in seinem langen Leben schon zu Gesicht bekommen. Aber die Zahl derer, die ihm noch nie vor Augen gekommen bzw. aufgefallen waren, war unendlich groß. Wurde ihm dies während einer der Exkursionen bewusst, so begann ihm immer wieder der Kopf zu brummen. Auch bewegte sich die Gruppe der ExpertInnen, die sich gut gelaunt lateinische Begriffe zurief, nicht selten so rasch durch das Gelände, dass er nur hinterher stolpern konnte und sich vorkam wie ein Analphabet. Aber das verdross ihn nicht, vielmehr zählte er das zu dem, was man im Volksmund so zutreffend damit beschreibt, dass ein jeder Lehrgeld zahlen müsse. Außerdem stellte er bald schon fest, dass die Weisheit eines großen Dichters auch für ihn zutraf: wo die Not groß ist, wächst auch das Rettende. Vor so mancher Pflanze baute sich bei den Naturgängen beinahe die gesamte Gruppe auf und begann leidenschaftlich darüber zu diskutieren, welchen Fund man da gerade gemacht habe. Da hatte der Neue genügend Zeit, sich diesen genauer anzuschauen. In solchen Momenten kam es auch schon mal vor, dass die ExpertInnen ordentlich miteinander stritten, weil sie sich nicht darauf einigen konnten, um welche Pflanze es sich genau handelte. Ihm gefiel, wie man sich da Merkmale der Pflanze miteinander austauschte, was aber nicht zwangsläufig zu einer eindeutigen Entscheidung der Anwesenden führten musste. Als befreiend erlebte es der Blumenliebhaber dann, wenn sich eine*r der ExkursionsteilnehmerInnen in der gelehrten Disputatio plötzlich bückte, die Pflanze ausriss und verkündete, diese zu Hause in aller Ruhe nachzubestimmen. Die sich nun schlagartig einstellende Stille genoss der Novize in vollen Zügen.

Nachdem er an einigen Exkursionen teilgenommen hatte, fielen sowohl sein Erscheinen als auch seine Hilfsbedürftigkeit in der Gruppe einigen auf, die sich freundlicherweise seiner ein bisschen annahmen. Man nannte ihm zu seiner Freude die wissenschaftlichen Namen von Pflanzen, die man ihm mit einem Augenzwinkern in die Hand drückte oder die unmittelbar vor seinen Füßen aufragten. Wenn er die Namen nicht richtig verstand, wiederholte man sie ihm geduldig, bis er die korrekte Schreibweise in seinem Exkursionsheft stehen hatte, das er als Lernbegieriger von Anfang an mit sich führte. Und einige Helfende erbarmten sich nach und nach seiner, der sich insgeheim immer wünschte, auch als botanisch Ungebildeter mit einem Pflanzennamen durchaus eine bestimmte Vorstellung verbinden zu können. Als der Neue dies mehrmals mitgeteilt hatte, überraschten sie ihn eines Tages und beschenkten ihn damit, dass sie eine ihm unbekannte Art mit dem Namen bezeichneten, den die deutsche Sprache zur Verfügung stellt. Er hatte gerade in diesen Momenten das Gefühl, deutliche Fortschritte machen zu können, auch wenn die ExpertInnen nicht müde wurden, ihn auf die Wichtigkeit der Kenntnis der wissenschaftlichen Namen hinzuweisen. Die Zahl der Arten, die er in seinem Exkursionsheft eintragen und zu Hause in aller Ruhe nacharbeiten konnte, wuchs und wuchs, was ihn glücklich machte. Und zugleich wuchs in ihm nach und nach die Gewissheit, in der genau richtigen Gruppe gelandet zu sein und mit ihr das Abenteuer Pflanzenbestimmung mit großem Gewinn zu erleben, wofür er dankbar war. Zwar hatte er nach zahlreichen Exkursionen den Eindruck gewonnen, dass er noch unglaublich weit davon entfernt war, ein Botaniker zu sein, aber immerhin ein Liebhaber von Pflanzen geworden zu sein, der für sich selbst die Möglichkeit, sich zu einem engagierten Freizeit-Botaniker zu entwickeln, nicht mehr ganz in das Reich der Fantasie verbannen wollte, wie er es zu Anfang getan hatte. Und so war in ihm die Bereitschaft gereift, das noch lange fortzusetzen, was einmal eher zufällig begonnen hatte: einen kleinen Beitrag dafür zu leisten, dass die Menschen noch mehr darüber erfahren, welche Pflanzen an welchen Orten anzutreffen sind und dort bewundert werden können.